Hejerat Anwari

101 Gedichte für die Menschlichkeit

Über mich

Das Kabul der 90er- und 00er-Jahre war die Heimat meiner Kindheit und Jugend. Eine Stadt geprägt von Gewalt und Armut, aber reich an Geschichte und Kultur. 2015 musste ich diese Heimat jäh verlassen. Es bleiben die Erinnerungen - wie trockener Staub, der sich in Luft auflöst. Mein Journalismus-Studium konnte ich nicht mehr ganz abschliessen. Die Lust zu schreiben ist das Einzige, was ich aus meiner Heimat mitnehmen konnte. Fast das einzige: Da ist noch mein Traum, dass ich irgendetwas für den Frieden in unserem Land tun kann.

101 Gedichte für die Menschlichkeit

Die Gedichte entstanden seit Anfang 2018 aus meinen Gedanken an die Heimat, Erinnerungen an meine Mutter, an den Abschied von zuhause, an die Flucht nach Europa, ans Ankommen in der Schweiz, an das neue Leben in einer fremden Kultur weit weg von zuhause. Es ist eine Auseinandersetzung mit Menschlichkeit, Hoffnung, Ernüchterung, Schmerz, Verlust, Freiheit, (Neu-) Orientierung und Orientierungslosigkeit sowie mit Identität.

In den Gedichten versuche ich mich zu orientieren - in und zwischen den Kulturen von Orient und Okzident. Die Gedichte sind auf Persisch und Deutsch geschrieben. Ich balanciere zwischen den beiden und versuche damit eine Brücke zu schlagen in die jeweils andere (Schreib-) Kultur.

Mit den Gedichten möchte ich Dialog, Verständigung und Verständnis fördern.

Die Kapitel des Gedichtbands 

Heimat

Kann Zeit eine neue Heimat schenken?  Die Erinnerung an die Heimat brennt, sie bohrt sich langsam ein Loch in mein Herz. Träume halten mich zum Narren: sie zeigen meine Heimat klar und nehmen sie mir wieder weg. Ich warte auf Menschlichkeit, die meine Heimat von der Dunkelheit befreit.

Auf dem Weg

Der Weg war lang, trocken und hart. Meine Augen haben Bilder gesehen, die sie nie vergessen werden. Eine Hülle aus Angst umgab meinen Körper. Mein Geist war hellwach und doch abwesend. Wo war die Menschlichkeit auf meinem Weg?

Fremde Freiheit

Die fremde Freiheit hat unsichtbare Gitter. Wenn du fremd bist, bauen sie sich um dich auf und versperren dir den Weg. Das Rad der Zeit dreht und du bleibst stehen. Grenzen sind eine Erfindung der Menschen. Früher waren Menschen grenzenlos glücklich. Grenzen gibt es viele. Du siehst sie nicht, wenn sie dir nicht im Weg stehen. In der fremden Freiheit hoffe ich auf die Menschlichkeit.

Sprache

Die Sprache der Fremde machte einen Clown aus mir. Sie schenkte mir viele neue Wörter, aber sie nahm mir die Würde. In der Heimat liess mich die Sprache fliegen. In der neuen Freiheit bricht sie mir die Flügel. Die neue Sprache kann nur wachsen, wenn ich Vertrauen bekomme. Dann gedeihen die neuen Wörter, schlagen Wurzeln, wachsen und können zu schönen Sätzen werden. Menschlichkeit ist der Dünger für meine neue Sprache.

Menschlichkeit

Wir sprechen von Vielfalt. Aber sind wir bereit dafür? Wir sprechen von Gleichheit. Aber wer ist gleich? Wir sprechen von Hilfe. Aber wie helfen wir?

 Jeden Tag tun wir so vieles. Tun wir auch genug für die Menschlichkeit?

Dank

Ich bedanke mich herzlich beim Aargauer Kuratorium für die Anerkennung meiner bisherigen Arbeit am Gedichtband und den Lektoratsbeitrag. (Dezember 2020)



Leseproben

aus: Mutter

Sie war meine Mutter und die Kleidung meines Körpers
Sie war meine Träne und mein Kissen
Sie litt mit mir, wenn ich vor Kummer Schmerzen hatte
Sie wusste genau, wie sie meine Traurigkeit nehmen konnte. (...)

aus: Nacht in Helmand

(...) Oh Nacht, dir wird ein Morgen folgen - was wird er bringen?
Oh Nacht, du verstecktest, wo Osten und Westen waren
Du liessest die Wüste Menschen verschlingen
Zu Fuss muss auch ich diese Wüste durchqueren
Keine Wahl - Hiobs Geduld muss auch meine werden. (...)

aus: Schlaf oder Die süsse Maulbeere

Die Maulbeere schmeckt süss
Sie spinnt einen Kokon über mein Denken
Und weckt die Erinnerung an die Heimat meines Herzens
Meine Heimat lebt in der Erinnerung - dumpf und klar zugleich
Im Traum sehe ich das schöne Herz der Heimat, die traurig schläft. (...)

aus: Hoffnung

Hoffnung besteht aus nichts
Und hält uns doch am Leben
Hoffnung wächst aus Wörtern
Und stirbt an Wörtern
Sie zielt auf Ziele und verliert sie wieder
Sie baut sich auf wie ein Kartenhaus. (...)


aus: Ich treibe in einem Boot

Mein Leben treibt in einem kleinen Boot
Rundum das Wasser mit seiner listigen Gischt
Kein Ziel in Sicht, der Ausblick ist verwischt
Ich fühl mich nicht im Glück und nicht in Not. (...)

aus: Safran

(...) Es steckt dein Wert
In kleinen dünnen Fäden
Wie in unsrem Leben
Wer im Grossen sucht, der irrt. (...)

Impressum

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